Leistungsförderung oder Elitismus – Braucht es eine Spez-Sek?

16. Juni 2025

Seit Jahren werden Schülerinnen und Schüler nach der Primarschule in verschiede Leistungsniveaus eingeteilt, um ab der Oberstufe in homogeneren Gruppen lernen zu können. Ein separates Spez-Sek-Niveau verliert nun jedoch zunehmend an Popularität, da neue Erkenntnisse aus der Bildungsforschung inklusivere Oberstufenmodelle als geeigneter erachten. Doch ist dies eine gute Entwicklung?

Es ist viertel nach Zehn, der Gang der Schule Moos in Gümligen ist menschenleer. Die Schülerinnen und Schüler- von Klein bis Gross - sind soeben in den Klassenzimmern verschwunden und der Oberstufenlehrer Peter Hurni meint nachdenklich: «Zwei Seelen, ach, in meiner Brust». Auf die Frage, ob es eine Spez-Sek brauche, gäbe es keine Antwort, nur Antworten.

In vielen Umlandgemeinden von Bern gibt es seit vielen Jahren eine Spez-Sek, doch nach und nach werden die separaten Klassen für besonders leistungswillige Schülerinnen und Schüler eingestellt. So etwa 2022 in Köniz im Gymnasium Lerbermatt und 2024 in Ostermundigen. Viele Schulen setzen jetzt auf das Modell „Twann“, bei dem die Jugendliche zunächst in die Niveaus Sekundar und Real eingeteilt werden, um dann in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet zu werden. Mit diesem integrativen System soll eine gute Klassengemeinschaft gefördert werden und man will es so den Realschülern vereinfachen in das Sek-Niveau aufzusteigen.

Ausserdem soll den Schülerinnen und Schüler so mitgegeben werden, dass alle Stärken und Schwächen von Mensch zu Mensch unterschiedlich angelegt sind. Ein mögliches Abheben der Leistungsstärkeren in eigenen Klassen möchte man so verhindern.

Spez-Sek – das Leistungskader der Oberstufe

Wer über das Thema Spez-Sek im Raum Bern recherchiert, stösst schnell auf Lutz Collet, ehemaliger Initiator der Initiative für Pro Spez-Sek im Gymnasium Lerbermatt aus Köniz. Er sah in der Spezsek eine Chance leistungsstarke Schülerinnen und Schüler auf ihren Weg zu fördern und unterstützen. Mit der verlorenen Volksabstimmung sei dies nun Vergangenheit. Zur Frage, ob die Spez-Sek elitäre Verhaltensweisen verstärken würde, verneint er. Es handelte sich in Köniz um ein zweijähriges Angebot der Volksschule, angegliedert an das Gymnasium Lerbermatt. Weitere Spez-Sek Klassen würden im Oberstufenzentrum Köniz geführt, zusammen mit separaten Sek- und Realklassen, mit Möglichkeit des Wechselns. Collet habe Verständnis, dass Lernende einer Spez-Sek stolz auf ihre Schulleitungen sind, elitär sei dies aber nicht. Als Vergleich meinte er: «Ich wäre auch stolz darauf im YB-Leistungskader zu spielen.» Eigenmotivation der Jugendlichen, Peergruppen, Klassendynamik und das Verhältnis zwischen Klasse und Lehrerperson sieht er als Einschlussfaktoren für den Schulerfolg. Auch sieht er einen Zusammenhang zum Elternhaus und dem vorgelebten Verhalten. Da einige Schülerinnen und Schüler von ihren Eltern stärkere Unterstützung bekommen als andere und in diesen Familien Bildung häufiger positiv vermittelt wird, können diese Jugendlichen in der Schule tendenziell erfolgreich sein. Das dürfe aber nicht als nachteilig angesehen werden.

“Eine gemischte Klasse ist ein besseres Abbild der Gesellschaft, Verständnis und Solidarität werden gefördert.” Sandra Gilgen

Die Position der Forschung

Beim Betreten des Gebäudes der PH-Bern, sieht man nur noch wenige Studierende an Tischen sitzen.  Viele sind wohl schon nach Hause gegangen, da das Wochenende am Freitagnachmittag bereits angefangen hat. In der Eingangshalle des Hauptgebäudes sind einige Stände aufgebaut, welche an eine Messe erinnern. Produkte für Haustierhalter werden verkauft und beworben. Um zum Büro von Dr. Sandra Gilgen gelangen zu können, muss man die Treppe zum dritten Stock hinauf und den Gang nach hinten laufen. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und nach kurzer Zeit steht sie auf und man wird lächelnd begrüsst. Auf dem Gang gibt es mehrere Tische, an welche man sich setzen kann.

Durch das Gespräch mit der Soziologin Dr. Sandra Gilgen von der Universität Bern wird deutlich, dass das Thema Niveautrennung in der Bildungsforschung intensiv diskutiert wird. Eine frühe   Einteilung von Leistungsklassen erachtet man zunehmend als kritisch. Sie sieht klare Vorteile in einer Oberstufe ohne strikte Leistungstrennung, bei der der Fokus auf den individuellen Stärken der Schülerinnen und Schüler liegt. Indem auf diesen Kompetenzen aufgebaut wird, könnten alle Lernenden persönliche Erfolgserlebnisse erfahren und ihre Potenziale besser entfalten. Diese Weiterführung der integrierten Unterrichtsform aus der Primarstufe würde ihrer Meinung nach nicht nur das Selbstbewusstsein der Jugendlichen stärken, sondern sie auch auf das spätere Berufsleben vorbereiten. «So lernen sie mit Menschen unterschiedlicher Fähigkeiten und Talente zusammenzuarbeiten» meint sie zuversichtlich. Zudem könnten solche Modelle Vorurteile und elitäres Denken abbauen. Dr. Gilgen ist überzeugt, dass es das Verständnis und die Sensibilität für die Vielfalt der Menschen in unserer Gesellschaft fördert, wenn Jugendliche von Anfang an in heterogenen Gruppen lernen. Sie betont außerdem, dass es eine Bereicherung für alle wäre, wenn zwölf Jahre obligatorische Schulzeit Pflicht wären. So hätten alle die Chance während zwölf Schuljahren ein breites Allgemeinwissen zu erlangen – ähnlich wie im Gymnasium. So müssen sich Jugendliche noch nicht nach dem Ende des neunten Schuljahres auf eine Berufsrichtung festlegen. Um die individuellen Stärken der Lernenden gezielt zu fördern, schlägt sie vor, den Bewertungsfokus zu erweitern und neben Noten auch andere Kompetenzen zu berücksichtigen. Als größte Herausforderung sieht Dr. Gilgen die Unterfinanzierung des Bildungssystems in der Schweiz. Denn die Qualität des Unterrichts und das Engagement der Lehrpersonen spielen eine entscheidende Rolle für den schulischen Erfolg der Schülerinnen und Schüler. Dies sei nicht nur durch eine Änderung des Bildungssystems möglich.
Ihre Überzeugung: Eine Oberstufe ohne jegliche Niveaueinteilung wäre das Beste für alle beteiligten Parteien. Am nächsten kommt ihrer Idealvorstellung das Twann-Modell.

Hochschulzentrum von Roll (Marlene Schanz)

Die Tücken des Twannmodells

Das Modell Twann ist zwar organisatorisch simpel, da alle Schüler eines Jahrgangs in einer Klasse sind, für die Lehrer jedoch ist es eine grosse Herausforderung, solche Klassen zu unterrichten. Sie müssen die einen Schülerinnen und Schüler auf das Gymnasium vorbereiten, die anderen bei der Lehrstellensuche unterstützen und dabei sicherstellen, dass kein Kind über- oder unterfordert wird und dazu die Freude am Lernen nicht verliert.

Um diesen anspruchsvollen Job leisten zu können, ohne dabei komplett auszubrennen, bräuchte es laut dem Sekundarschullehrer Peter Hurni entweder kleinere Klassen oder mehr Lehrpersonen pro Klasse. Sonst sei die Belastung zu gross, was dazu führe, dass der Lehrerberuf immer unattraktiver würde. Er beichtet: «Ich unterrichte auch lieber Klassen mit einheitlichem Leistungsniveau, da Homogenität das Unterrichten erleichtert». Der Gefahr des Lehrermangels blickt er mit besorgtem Blick entgegen. Eine weiter Verschärfung des Fachkräftemangels wäre ein grosses Problem.

Die Rolle der Lehrpersonen

Der Schulleiter der Oberstufe Ittigen Bernhard Kormann, der selbst zunächst Primarlehrer war und später das SEK-Lehramt absolviert hat, hat sowohl Erfahrung mit homogenen als auch heterogenen Klassen. Nach seiner Ausbildung übernahm er zunächst eine anspruchsvolle Sek-Klasse. Beim Gedanken an diese Klasse muss er schmunzeln, er meint: «Ja, diese Klasse war eine Herausforderung, doch gegen Ende hatten wir es gut». Heute ist er Schulleiter. Er meint überzeugt: «Das System spielt eine untergeordnete Rolle – entscheidend sind die Lehrpersonen.»

„Es braucht keine Spez-Sek“, sagt er. „Mit einem gut ausgebildeten Lehrpersonenteam kann man alles erreichen.“

“Mit Selektion schafft man immer Gewinner und Verlierer.”
Bernhard Kormann

Herausforderung für Lehrpersonen

Je leistungshomogener eine Klasse ist, desto einfacher ist es für Lehrpersonen diese zu unterrichten, da man weniger unterschiedliche Bedürfnisse zu unterrichten hat. Dies spricht für eine klare Niveautrennung mit eigenen Spez-Sek-, Sek- und Realklassen. Beispielsweise ist klar, dass es das Ziel einer Spez-Sek-Klasse ist, den grössten Teil davon so gut wie möglich auf ein Gymnasium vorzubereiten. Mischklassen zum Beispiel im Twann-Modell erfordern jedoch eine andere Art des Unterrichtens. Die Lehrpersonen müssen lernen, individuell zu fördern und differenzierte Lernangebote zu schaffen. Dabei könnten alternative Bewertungssysteme wie Kompetenzraster anstelle von Noten hilfreich sein. Da Noten je nach Lehrperson unterschiedlich vergeben werden betont Bernhard Kormann: „Noten sind subjektiv.“ „Wir sind noch weit entfernt davon, sie abzuschaffen, aber sie sind selten ein fairer Massstab.“

Während eine Spez-Sek leistungsstarke Schüler und Schülerinnen gezielt auf das Gymnasium vorbereiten könne und für Lehrpersonen einfacher zu unterrichten sei, sieht Bernhard Kormann deutliche Vorteile in Mischklassen. "In der Zukunft hat man in der Arbeitswelt mit ganz unterschiedlichen Niveaus zu tun – es ist gut, wenn man das schon früh lernt."

Eine klare Niveautrennung birgt seiner Meinung nach Risiken. Sie schaffe eine künstliche Selektion, die Gewinner und Verlierer generiere. Dies sei nicht förderlich für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Auch fördere sie elitäres Denken – «nicht bei den Kindern, sondern zum Teil bei den Eltern» meint er schmunzelnd. Die Gesellschaft profitiere von durchmischten Klassen, in denen alle voneinander lernen können.

Der Schulleiter von Ittigen antwortet auf die Frage, wie das perfekte Modell dann für ihn persönlich aussehen würde mit: " Keine Selektion, keine Niveautrennung, ein engagiertes und gut ausgebildetes Lehrerteam, keine Noten und Bewerten mithilfe von Kompetenzraster."

“Das elitäre Denken entsteht nicht bei den Kindern aus der Spez-Sek, sondern zum Teil bei deren Eltern.” Bernhard Kormann

Primarschule Ste-Croix (Marlene Schanz)

Was will man als Gesellschaft

Das Modell der Spez-Sek setzt auf Leistungshomogenität und bestmögliche Vorbereitung auf das Gymnasium, wird aber zunehmend für eine mögliche Förderung von Elitismus kritisiert. Das Twann Modell ist das andere Extrem: In diesem Modell wird das Ziel verfolgt, allen Schülerinnen und Schüler bestmögliche Chancen zu bieten und den Aufstieg in höhere Niveaus zu erleichtern. Doch ohne die nötigen Ressourcen und eine gezielte Unterstützung der Lehrpersonen kann dieses ambitionierte Konzept an seine Grenzen stossen.

Vielleicht wäre, wie Peter Hurni lachend meint die «bünzlischweizerische» goldene Mitte die beste Lösung. Mögliche Optionen dafür wären das Modell 3b, aber letztlich geht es um eine grundlegende Frage:
Will man Selektion oder Inklusion?